Kolumnen 2008
Mauer des Hedonismus:   Mitte versus Westen
Der Partyvergleich bei den 1.-Semestern
Auch fast 20 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es zumindest partytechnisch immer noch eine imaginäre Mauer des Hedonismus. Das hat zwar nicht mehr viel mit ursprünglichen Ost-West-Animositäten im engeren Sinne zu tun, sondern basiert vielmehr auf einer Trennung zwischen alt eingesessenen Westberlinern einerseits und den Touristen bzw. den aus sämtlichen Provinzen Zugezogenen andererseits, die meinen, das „neue Berlin" zu repräsentieren.

Ein und dieselbe Stadt - aber wenn man in unterschiedlichen Teilen der Stadt nachts mal ausgehen und ausflippen möchte, findet man sich in zwei verschiedenen Welten wieder. Und so kann man immer mal wieder beobachten, dass schmucke Grundwaldkids mit Krokodillederslippern nicht am rundumtätowierten Türsteher in die illegale abgefuckte Fabrikhalle hineingelassen werden und umgekehrt die liebevoll genannten „Mitte-Asseln" an den Türen zu Schicki Micki Partys im Westteil der Stadt abgewiesen werden.

Das muss nicht sein! Jeder könnte überall hin, aber dafür muss man die unterschiedlichen Verhaltensmuster verstehen, die hier gegenüberstellend präsentiert werden und bei Assimilation ein uneingeschränktes Vergnügen in beiden Partykulturen ermöglichen.

1. Partyvorbereitung

1.1 Vorbereitung für eine „West Glamour"-Party
Nach stundenlangem Abhängen in einem der vielen Franchise Coffee ToGo Shops nahe des Ku-damms und dem Konsum von LatteMatschato mit Mandel-Vanille Sirupgeschmack und Fummelei am iPhone, geht es nach Hause. Dort wird in der „Bunten" oder „Gala" geblättert, ein wenig Proseccochen geschlürft und dann eine stundenlange Duschzeremonie veranstaltet, bei der sich sowohl Jungs als auch Mädels rundumrasieren, peelen, mani- und pediküren und eincremen. Danach wichsen die Jungs ihre Krokodillederslipper und klappen sich den Hemdkragen hoch. Die Mädels fragen Mutti nach Botox und freuen sich auf die bald anstehende und lang ersehnte Brust OP, damit endlich das schöne tief dekolletierte Oberteil aus New York so richtig zur Geltung kommen kann. Mit großen Äuglein wir dann von Papa der SL oder 911er geliehen oder der eigene Q7 genommen.

1.2 Vorbereitung für eine „Mitte Party"
Während des Blätterns in der Kulturzeitschrift „Monopol" wird erstmal kräftig einer Durchgezogen und eine Litschi-Bionade getrunken. Danach wird ebenfalls lange geduscht, im Anschluss daran besteht jedoch die paradoxe Aufgabe darin, sich wieder so zu stylen, als ob man drei Tage keine Körperpflege getätigt hätte. Die nigelnagelneuen und nicht gerade billigen bunt gestreiften Retro-Kleidungsstücke aus einer In-Boutique in Prenzlberg werden z.B. durch Rubbeln über einen scharfen Gegenstand so präpariert, dass sie aussehen als wären sie Reliquien aus den 80ern. Dann wird noch einer Durchgezogen und eine Ingwer-Orange-Bionade getrunken, um dann irgendwann mit dem Skateboard loszurollen.

2. Vor der Tür

2.1 Vor der Tür einer „West Glamour Party"
Mit lautem Gedröhne wird mit der Luxuskarosse vorgefahren. Für It-Girls kommt es jetzt ganz besonders auf das Aussteigen aus dem Auto an: Idealerweise gibt es einen roten Teppich und Fotografen der Klatschpresse, die sich mit einem „Nippel-" oder „(kein) Höschen-Blitzer" ganz wuschig machen lassen. Dann geht es an der langen Menschenschlange vorbei zum V.I.P-Eingang, wo man die Clubkarte zückt oder gleich unter verschwörerischem Kopfnicken des Selekteurs hineingelassen wird - man kennt sich schließlich.

2.2 Vor der Tür einer „Mitte Party"
Die Gäste rollen mit dem Skateboard vor und tragen unterm Arm einen Lonely Planet Reiseführer. Für europäische Touristen und ERASMUS-Studenten ist der PACE-Regenbogensticker an der Jacke verpflichtend, eine Verständigung mit den anderen wartenden Gästen kann besonders gut mit schwäbischem Akzent erfolgen. An dem Türsteher angekommen, muss das Codewort wie z.B. „Butterblume" gesagt werden, denn den Club darf es eigentlich gar nicht geben und deshalb kann da nicht jeder rein, schon gar nicht Schlipsträger in grauen Anzügen, da diese ja von der GEMA sein könnten.

3. Im Club

3.1. Feiern einer „West Glamour Party"
Jetzt geht es richtig los: Der Schampus wird in Flaschengrößen ab Methusalem aufwärts geordert, aber nicht um ihn zu trinken, sondern wie wild in der Gegend herumzuspritzen. Für männliche Gäste gilt es nun, auf dem reservierten Tisch so viele hochprozentige Flaschen und tanzende Mädchen anzusammeln wie nur möglich - bis die Kreditkarte glüht. Für die weiblichen Gäste beginnt hier der formelle Teil, denn ein Suggardaddy muss dringend angelacht werden, um den Winter in St. Moritz verbringen zu können oder mindestens die neue LV Tasche zu sichern. Zwischendurch verschwinden die Gäste immer wieder allein und gemeinsam auf den marmornen Toiletten, um kurz danach fröhlich grinsend wieder herauszukommen. Die Luft wird von Stunde zu Stunde stickiger und auf der Tanzfläche wird gebalzt, was die Lende hergibt.

3.2 Feiern einer „Mitte Party"
In der Fabrikhalle ist es zugig und nasskalt, so dass eine Rheumaerkrankung vorprogrammiert ist. Dies interessiert hier im Moment aber keinen, denn zum Stroboskoplicht und zu elektronischen Klängen und wummernden Bässen tanzt sich jeder autistisch in Rage. Da hier alles illegal ist, werden Getränke nur auf Spendenbasis verrechnet, und wenn man flirty drauf ist, kann man allen erzählen, man arbeite als Creative Director in einer Werbeagentur oder sei gar Agenturchef/-chefin.

4. Nach der Party

4.1 Nach der „West Glamour Party"
Irgendwann neigt sich die Nacht dem Ende entgegen. Die meisten Gäste krabbeln aus dem Club an den Straßenrand, um sich mit letzter Anstrengung ein Taxi zu holen, andere wiederum setzen sich mit vom Wodka Cranberry verklebten Synapsen lallend und kaum noch das Zündschloss findend ans Steuer des SUV. Gute Fahrt! Vereinzelte Jungengruppen ziehen noch weiter in große Saunalandschaften und manche von den auf den Tisch tanzenden Hühnern gehen noch gackernd mit ihren Sugardaddys gemeinsam in ein Luxushotel.

4.2 Nach der „Mitte Party"
Wenn es schon längst hell geworden ist, rollen die europäischen Austauschstudenten auf ihren Skateboards zurück ins Studentendorf und die Agenturchefs fahren zurück in die luxussanierte Altbaudachgeschosswohnungen in Prenzlberg (alternativ auch in ein Loft in Kreuzberg, wo man samt Auto mit einem Fahrstuhl ins Wohnzimmer fahren kann). Für die meisten geht es jetzt aber erst richtig los, und so pilgern ganze Gruppen zu einer Afterhour, um dort mit großen Pupillen noch weiterzutanzen. Manch einer wird erst Mitte nächster Woche nach Hause kommen ohne sich an irgendetwas erinnern zu können.

5. Fazit

Viel Erfolg beim interkulturellen Austausch und viel Spaß beim Feiern!

Prinz Pikkolo, September 2008
Prinz Pikkolos Spielideen für unterwegs

Der Mensch will spielen! Und weil das so ist, und das Leben dank sommerlicher Temperaturen derzeit primär draußen auf den Straßen und Biergärten der Stadt stattfindet, präsentieren wir Euch an dieser Stelle Prinz Pikkolos ultimative Spielideen für unterwegs: Einfach die Seite ausdrucken, Freunde anrufen und schon kann der ganz große Spaß losgehen!

Spiel 1: Arschgeweih Safari
Ziel des Spiels ist es, innerhalb einer festgelegten Zeit die meisten Arschgeweihe (Arschgeweih = Tätowierungen über dem weiblichen Steißbein) zu zählen. Der Spieler mit den meisten Treffern gewinnt. Wie bei einer echten Safari kommt es auch hier auf die richtige Jagdstrategie an. Ein Tipp: Die beste Quote ist zu erzielen, wenn man sich im Ostteil der Stadt vor Solarien auf die Lauer legt.

Spiel 2: Großstadt Ornithologie
Bekanntermaßen sind ja in Berlin die lustigsten „Vögel" unterwegs. Ausgestattet mit Fernglas und einem Block, gilt es diese zu entdecken und so genau wie möglich zu bestimmen. So kann man sich beispielsweise in diversen Straßencafés oder Biergärten der Stadt positionieren und die Menschen am Nachbartisch durch das Fernglas genauestens beobachten und deren Verhaltensweisen studieren. Bei detaillierter Dokumentation im Vogelbestimmungsbuch lassen sich möglicherweise interessante bezirksübergreifende gesellschaftliche Studien anfertigen und manchmal sogar ganz besonders seltene Exemplare entdecken.

Spiel 3: Ich rieche was, was Du nicht riechst
Bei diesem Spiel, geht es darum, die Stadt über den Geruchssinn zu erleben. Das Spiel kann prinzipiell überall gespielt werden, aber am besten ist es, wenn man dafür olfaktorisch interessante Orte aufsucht, wie z.B. die Feinschmeckerabteilung im KaDeWe oder eine Douglasfiliale. Je differenzierter die Aromen wahrgenommen werden, desto mehr Punkte gibt es. Ein Beispiel: Das Erriechen von „Käse" oder „Douglasverkäuferin" gäbe lediglich 1 Punkt, wohingegen die Wahrnehmung von „Zürcher Ratsherrenkäse" oder „Douglasverkäuferin, die ein Gemisch aus Chanel No. 5 und Armani Diamonds umgibt" 5 Punkte geben könnte.

Spiel 4: Latte Macchiato BINGE
Nacht für Nacht besteht für viele Jungendliche der Spaß darin, sich mit Alkopops die Birne bis zur Besinnungslosigkeit zuzuballern. Auch für diese Klientel haben wir ein Gesellschaftsspiel parat, das auf einem ähnlichen Wettbewerbsmechanismus basiert, nur dass es hier darum geht, innerhalb von kürzester Zeit so viele Latte Macchiatos XXL mit mindestens drei „extra shots" Sirups herunterzustürzen. Das Spiel könnte auch für das internationale Publikum geführter Flatratepartys interessant sein, wenn es vielleicht als „Starbucks Staffel" professionalisiert aufgezogen werden würde.

Spiel 5: Erlernen der Ben & Jerry´s-Eiscreme Sprache
Ein eher linguistisches Spiel, das gleichzeitig die rechte Gehirnhälfte trainiert, ist das Erlernen der Ben & Jerry´s-Eiscreme Sprache. Die verschiedenen durchgeknallten Eiscremesorten (Bohemian Raspberry Cherry Garcia Chunky Monkey Cookie Dough Lemon Sorbet Oatmeal Cookie Chunk Phish Food Vanilla Fairtrade Berry Extraordinary Sorbet Caramel Chew Chew Chocolate Fudge Brownie Coffee Coffee Buzz Buzz Buzz Half Baked New York Super Fudge Chunk One Cheesecake Brownie Baked Alaska) werden dabei wie Vokabeln erlernt und in die normale Konversation wann immer möglich eingebaut. Weil's so süß ist, kommt das vor allem bei den Mädchen gut an, so dass man die neue Sprachkompetenz auch gleich Erfolg versprechend in der Disko anwenden kann: „Hey, Vanilla Garcia Cookie Dough Chew, wie geht's? Heute Nacht Fudge Buzz Chunk bei Dir oder bei mir?"

Spiel 6: Spam Poetry
Ein ähnliches Spiel ist das Gestalten von Gedichten aus Spam-Mails. Dafür muss man einfach nur in das Junk-Mail-Postfach hineinschauen und die Betreffzeilen möglichst geschmeidig aneinanderreihen - und schon kommt wunderbare dadaistische Kunst heraus:

No weight, no problems. Get slim today
Powerful female intimacy
Be the ladies´ hearts ruler
Let your intimate life shine
Hear her screaming your name in pleasure
Make her tremble with passion!

Und mit einer Gänsefeder auf Büttenpapier geschrieben, ist das vielleicht auch eine schöne Geschenkidee zum nächsten Valentinstag…

Spiel 7: Studi VZ-Quartett
Für dieses Spiel muss man seine StudiVZ Kontakte ausdrucken (am besten farbig und auf Pappe kleben) und schon kann es mit den Kommilitonen auf dem Campus losgehen. Die Regeln orientieren sich an den damals auf dem Schulhof gespielten Quartetts, deren Sinn darin bestand, den anderen damit auszustechen, dass man den Bagger oder Formel 1 Boliden mit den meisten PS oder dem höchsten Gewicht auf der Hand hatte. Beim Studi VZ-Quartett gewinnt jedoch der Spieler, der die meisten und hochwertigsten „Freunde" ersten, zweiten und dritten Grades hat bzw. auf den meisten Bildern verlinkt ist. Extrapunkte gibt es für Freunde, die exhibitionistische Fotos online gestellt haben. Dabei gilt folgendes Punktesystem: laszive Schmollmundfotos in der Disco = 1 Extrapunkt, Mädchen küsst Mädchen im Suff = 2 Extrapunkte; halbnackte Selbstauslöserfotos im heimischen Schlafzimmer = 3 Extrapunkte, wenn jemand bei einem Kontakt in seiner Freundesliste jedoch nicht weiß, wer das überhaupt ist, gibt es 3 Minuspunkte.

Spiel 8: Cross Tipp Kick Olympiade
Passend zur Vorbereitung auf die sommerlichen Sportereignisse des Jahres (Fußball EM und olympische Spiele) präsentieren wir Euch die Cross Tipp Kick Olympiade. Dafür benötigt jeder Spieler eine Tipp Kick Figur und einen Tipp Kick Ball sowie ein kleines Tor, das man irgendwo in der Stadt aufstellt. Dann kann es losgehen: Ausgehend von einem gemeinsamen Startpunkt muss nun jeder Spieler versuchen, seinen Ball mit so wenig Schüssen wie möglich ins Tor zu manövrieren. Dabei ist der Schwierigkeitsgrad beliebig variierbar. Ein leichter Spielmodus bestünde z.B. darin, den Ball vom Komposthaufen des heimischen Gartens bis ins Tor vor der Garageneinfahrt zu schießen. Schwieriger wird es jedoch, wenn man eine Cross Tipp Kick Olympiade über die ganze Stadt verteilt ausrichtet. Startpunkt könnte dann z.B. das Caras am Ku-damm sein, während man das Tor als Zielpunkt am Fuße des Fernsehturms auf dem Alex stellen könnte. Keine Frage, da kommt man an einem Tag schon ganz gut durch die Stadt, ist an der frischen Luft - und gesund ist es durch das viele Bücken auch (aber bitte Obacht bei Schüssen über die Straße!).

Spiel 9: Porno-Scrabble
Abschließend sei auch noch auf ein tolles Spiel für die Größeren unter Euch hingewiesen: Porno Scrabble. Dafür benötigt man lediglich ein normales Scrabblespiel, das grundsätzlich auch nach den üblichen Regeln gespielt wird (doppelte oder dreifacher Buchstaben- und Wortwerte) - jedoch mit der Modifikation, dass es für jedes umso schweinischere Wort aus dem Erotikbereich den fünffachen Wortwert gibt. Zur Vorbereitung kann ein querlesender Blick in Charlotte Roches „Feuchtgebiete" oder eine ausgiebige Recherche im Internet nicht schaden.

Viel Spaß beim Spielen, wünscht Euch
Prinz Pikkolo (Mai 2008)
"Die Club-Hierarchie" -Auszug aus dem Buch "Berlin Fucking City"-
Im Folgenden werden die verschiedenen Kategorien von Partygästen beschrieben:

A-Promis:

Im richtigen Leben da draußen D-Promis, die irgendwann irgendwo mal im Fernsehen zu sehen waren als später gescheitertes Mitglied einer Boyband oder als saisonaler Moderator des Nachtprogramms bei Sat1. Sie sind hier die Kings. Man kennt ihre Gesichter, auch wenn man nicht immer weiß, woher.


B-Promis:

In der Außenwelt nicht mehr erfassbar als überdurchschnittlich berühmt, jedoch im Club relativ populäre Szenegrößen. Sie sind meist Organisatoren von anderen Partys, Restaurantbesitzer oder einfach nur sehr reich.
Mit ihnen gesehen zu werden ist nicht das Nonplusultra, jedoch die Existenzgrundlage für den nächsten Typus.


C-Promis (aka: die, die einen kennen, den man kennt):

Dieser Typus hat eigentlich nichts Außerordentliches geleistet. Seine einzige Errungenschaft ist es, auf so vielen Partys wie möglich zu sein. Diese Leute sind »Szene« und wissen immer, wo die heißeste Fete gerade steigt oder welche Location gerade in oder out ist. Zusammen mit ihren Mentoren, den B-Promis, bilden sie mobile Stimmungseinheiten, deren Auf- bzw. Abtauchen der Segen oder der Fluch für jede Party ist.


D-Promis (aka: die Ängstlichen):

Diese Menschen haben im Club der VIPs eine sehr labile Legitimierung. Die meiste Energie wird darauf verschwendet, möglichst nicht aufzufallen, was in diesem Kontext bedeutet, auffallen, aber den A- bis C-Promis nicht ihre Show stehlen. Sie sind permanent auf der Lauer und fürchten stets als nichtsnutzige Normalos entlarvt zu werden. Bei ihnen kann der Clubbesuch schnell zu einer Tortur werden, von Vergnügen kann schon gar keine Rede sein. Die Folgen sind meist Erkrankungen nervöser Art und extreme Minderwertigkeitskomplexe.


Sie sehen also, selbst dort, wo man lediglich ausgelassene Feiernde vermutet, gibt es eine Hierarchie. Viele Eltern verurteilen ihre jugendlichen Sprösslinge oft als nichtstuende Partysüchtige. Dem kann ich nur widersprechen. Heutzutage muss ein Partygänger mehr Organisationstalent und Analysefähigkeiten mitbringen als so mancher Manager. Ein Leistungsspektrum, das keinesfalls unterschätzt werden sollte. Aber auch nicht
überschätzt. Vielleicht sollte man sich auch einfach garkeine Gedanken darüber machen. Davon wird der Kopf nur unnötig heiß und wenn man ganz viel Pech hat tritt möglicherweise noch eine Gehirnschmelze ein.



Willy Kramer


Wir danken Willy Kramer, daß er uns den Auszug aus seinem Buch "Berlin Fucking City" zur Verfügung gestellt hat. Wenn Euch das ganze Buch interessiert, könnt Ihr es bei Amazon hier bestellen oder auf www.berlinfuckingcity.com

Berlin Roadmovie


Die Ausgangssituation könnte ungefähr wie folgt sein:
„Schatz! Holst Du bitte den neuen Film mit Matt Damon?"
„Ja, klärchen! Ich nehme das Auto und bin gleich wieder da!"

Und weil man sich so sehr freut, mit dem neuen SUV, den man zu Weihnachten geschenkt bekommen hat, ein bisschen durch die Stadt zu cruisen, schlendert man den Schlüssel locker um den Finger drehend und pfeifend zum Auto. Die Freude ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn von weitem ist schon zu erkennen, dass über Nacht wieder mal ein paar Ökoterroristen per Kieselsteine die Luft aus den Reifen herausgelassen haben. Und während man darauf wartet, bis der gelbe ADAC-Engel vom Himmel kommt, um die Reifen wieder aufzupusten, kann man sich derweil die Zeit damit vertreiben, den tellergroßen Feinstaubfilter-Umweltzonensticker auf der Windschutzscheibe genau neben den anderen Stickern für Maut, Korsika-Fähre, Parkraumbewirtschaftungszone anzubringen. Wenn das so weitergeht, und man bald auch noch mehr Sticker anbringen muss, dann kann man bald gar nicht mehr durch die Scheibe gucken. Wahrscheinlich ist das sogar das pädagogische und politische Prinzip dahinter: Es werden solange rechtliche Sonderregelungen eingeführt, bis die Ressource Windschutzscheibe durch all die Sticker so zugekleistert und verknappt wird, dass man de facto gar nicht mehr Auto fahren kann?!

Nun kann es losgehen, und so tuckert man in die weichen Ledersitze gekuschelt durch 30er Zonen und Spielstraßen. Meine Fresse, da kann man schon recht kribbelig werden, wenn man 300 PS unterm Hintern hat, weshalb nach der fünften weiß gestrichelten Bodenwelle ganz kurz mal der rechte Fuß auf dem Gas ausrutscht und der Wagen wie eine Rakete beschleunigt. In dem Moment erscheint vor dem Auge ein unangenehmes grelles rotes Licht.

Auf einer Hauptstraße angelangt, geht es endlich rasant mit heulendem Motor voran. Aber auch nur kurz, denn es hat sich vor einer roten Ampel ein langer Stau gebildet. Und während man gerade die „Gedanken zum Auftanken: Liebe ist wie ein Bumerang, sie kommt immer wieder zurück" bei Radio Paradiso hört, macht sich ein zotteliges Mädchen mit einer verdreckten Wischvorrichtung an der Frontscheibe zu schaffen. „Nee Du, lass mal!", aber die Göre macht einfach weiter. Als man ihr nach langem Gezeter („Gib Geld!") irgendwann widerwillig 50 Cent in die Hand drückt, wird sie sogar noch pampig: Sie schimpft, schlägt auf das Autodach und verdreckt einem absichtlich die obere rechte Ecke der Scheibe, wo kein Wischblatt hinkommt.

Dann wird es grün, und es geht im Schneckentempo weiter - bis zur nächsten roten Ampel, wo sofort wieder jemand mit einem Wischgerät ans Auto kommt und sich ungefragt an der Scheibe zu schaffen macht. Diesmal ein durch alle Weichteile gepiercter Punk, der offensichtlich so zugedröhnt ist, dass er für die halbe Scheibe drei Ampelphasen benötigt und der Stau hinter einem unter einem Hup-Crescendo immer länger wird. Für kurze Zeit möchte man am liebsten wie Michael Douglas in „Falling Down" einfach das Auto stehen lassen und ganz gehörig eine Runde ausflippen.

An der nächsten Ampel kann man durchatmen: Endlich keine Scheibenwischmafia, stattdessen geben aber einige Freaks ein paar Showeinlagen zum Besten. Zwischen den Autos tänzelnd jongliert der eine, ein anderer spuckt Feuer. Applaus! Geld wollen aber auch diese Typen.

Um dem ganzen Wahnsinn an der nächsten Ampel zu umgehen, versucht man diesmal noch schnell bei kirschgrün über die Kreuzung zukommen - und plötzlich ist schon wieder das grelle rote Licht im rechten Augenwinkel zu sehen!

Nach einiger Zeit ist man endlich bei der Videothek angelangt, aber weit und breit ist kein Parkplatz zu finden. Am Straßenrand stehen wie Huren aufgereiht und um Freier buhlend all die münzenfressenden Monsterparkuhren, die gefüttert werden wollen. Aber selbst in der zweiten Reihe sind die Autos schon wie bei „Tetris" im neunten Level angeordnet, so dass man mit eingeklapptem Rückspiegel millimetergenau an den Fahrzeugen herumzirkeln muss. Und während man immer wieder um den Block fährt, errechnet man, wie viel Lebenszeit so drauf geht, wenn man täglich 30 Minuten einen Parkplatz sucht. Das macht bei einer Lebenserwartung von mittlerweile 100 Jahren und Führerschein mit 18 immerhin fast 2 Jahre!

Endlich wird eine winzige Lücke frei, in die man sich schräg hineinquetscht und dabei leicht die lackierte Stoßstange eines anderen Fahrzeugs berührt. Eine aus dem Fenster herausguckende gelangweilte Oma schreibt sich prompt das Nummernschild auf und droht mit einer gehörigen Anzeige wegen Fahrerflucht. Der Besuch in der Videothek dauert keine zwei Minuten, aber als man zurückkommt, steht schon eine Dame vom Ordnungsamt (ja: mit lila gefärbten Haaren!) vor dem Auto und schreibt mit zusammengekniffenem Mund einen Strafzettel. „Halli Hallo! Ich war eben nur mal kurz da drin!" ruft man von weitem! Aber die Dame plustert sich auf und murmelt etwas davon, dass so nicht geht, weil das eine Feuerwehreinfahrt ist und wenn das jeder machen würde und davon, dass sie schon einen Abschleppdienst benachrichtigt hätte, und dass das ganz schön teuer werden würde…

Eine halbe Stunde später und viele Euro ärmer macht man sich auf den Heimweg. Da aber die Tankanzeige blinkt, wird zuvor noch schnell eine Tankstelle aufgesucht. Man hält den Zapfrüssel in die Öffnung und drückt ab. Peng! Und schon rotieren die Ziffern auf der Zapfsäule, wie die Fruchtsymbole eines einarmigen Banditen, nur dass man hier nix gewinnen kann. Nachdem der SUV das Monatsgehalt eines nach Mindestlohn bezahlten Briefzustellers verschluckt hat, holt man sich an der Kasse seine Rabattpunkte für den Nasenhaarschneider und Akku-Schrauber und beginnt die Rückfahrt. Die Ampelszenerie der Hinfahrt wiederholt sich, jedoch mit dem Unterschied, dass an der dritten Ampel das Handy klingelt: „Hallo Schatz, wo bleibst Du denn?" tönte es ins Ohr, zum antworten kommt man aber nicht mehr, da ein Wachtmeister aus dem Polizeiwagen vor einem die rote Kelle herausschwenkt, man rechts ranfahren und ein Verwarngeld für das Telefonieren am Steuer zahlen muss.

Irgendwann ist man aber zu Hause und gibt der Freundin das Video. „Och Menno! Du hast den falschen Film mitgebracht. Das ist ‚Bourne Verschwörung', der neue Film mit Matt Damon ist aber ‚Bourne Ultimatum', kannst Du bitte noch mal losfahren?"

Prinz Pikkolo, Januar 2008